Prolog-Tränen Marias

Es war an einem Nachmittag im späten Herbst. Das Ende des Herbstes war nah. Es began schon die Abenddämmerung, als Michio Fujiwara seine Schritte schwer von der Schule nach Hause schleppte.

Michios Vater war oft betrunken und ging dann am darauffolgenden Tag nicht zur Arbeit. Er pflegte an solchen Tagen erst mittags aufzustehen und dann erst einmal den Nachdurst zu löschen. Seine Frau behandelte er oft brutal. Es gab dauernd Streit in der Familie.

Früher war Michios Vater kein so grober Mensch gewesen. Aber nachdem Michios vier Jahre jüngere Schwester an einer Krankheit gestorben war, war er anders geworden. Er machte seine Frau für den Tod seiner Tochter verantwortlich. Er machte ihr bittere Vorwürfe darüber, dass sie die Krankheit nicht rechtzeitig erkannt hatte und das Kind zu spät zum Arzt gebracht hatte. Zu dem Unglück kam noch ein zweites: Bei der Arbeit hatte er sich am Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine schwereVerletzung zugezogen. Er war ein fähiger Zimmermann gewesen und hatte das Vertrauen seines Chefs und seiner Mitarbeiter besessen, aber nach dem Unfall konnte er nicht mehr so gut arbeiten und seine Leistungen ließen zu wünschen übrig. Er hatte den Verlust seiner Tochter nicht verkraften können und noch dazu seine beruflichen Fähigkeiten eingebüßt. So kam es, dass er jegliches Interesse an seiner Arbeit verlor und sich masslos zu betrinken begann. Je mehr er trank, desto brutaler wurde er, und mit der Familie ging es steil bergab.

Unter diesen Umständen konnte Michio sich nicht auf das Lernen in der Schule konzentrieren. Er hatte keine Hoffnung mehr.

Auch an diesem Tag war er ganz bedrückt und wollte gar nicht heimgehen. Nach Schulschluss ging er nicht nach Hause, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er ging gerade eine Straße entlang, die er noch nie zuvor gesehen hatte, als er rechts ein Gebäude bemerkte, das wie eine christliche Kirche aussah. Davor stand die Statue einer Frau. Michios Familie gehörte einer buddhistischen Religion namens Jo–Do–Shin–Shu an. Michio hatte noch fast nie mit dem Christentum zu tun gehabt und wusste nicht, dass es sich um eine Marienstatue handelte. Aber das war für Mario nicht wichtig. Er hatte das Gefühl, die Frau schaue ihn freundlich an, und das spendete ihm Trost. Mehr brauchte er nicht. Im Gesichtsausdruck der Frau meinte er auch ein wenig Traurigkeit zu sehen, und gerade deswegen fühlte er sich noch inniger mit der Frau verbunden, schien sie doch seine eigene Traurigkeit verstehen zu können.

Von diesem Tag an machte Michios nach der Schule regelmäßig denselben Umweg und ging erst dann nach Hause.

Ein Monat war vergangen. Es war ein paar Tage vor Weihnachten, und es schneite. Heute morgen hatten Michios Eltern gestritten, und als Michio daran dachte, wurde er noch bedrückter als sonst. Die Schneedecke wurde immer dicker, es wurde dämmrig, und während er die Straße entlang schritt, wurde er immer niedergeschlagener. Er schleppte sich langsam vorwärts. “Ich will nicht nach Hause”, dachte er. Gerade in diesem Augenblick tauchte in seinem Blickfeld die Kirche auf. Seine Beine begannen sich schneller zu bewegen. Im Schnee und in der Dämmerung wirkte alles verschwommen und unklar, aber wieder er sah die Statue der Frau, die jetzt einen weißen Hut trug. Wie immer schaute die Frau ihn freundlich an, wie immer sah Michio in ihren Augen jene Traurigkeit … Am Weihnachtsbaum vor der Kirche leuchteten die Lichter, und dann und wann hörte man aus dem Inneren der Kirche fröhliches Lachen. “Wann habe ich wohl das letzte Mal gelacht?” fragte er sich. Die fröhliche Atmosphäre in der Kirche passte überhaupt nicht zu seinem bedrückten Gemütszustand, und das machte ihn noch trauriger. Er fühlte sich fehl am Platz und hielt sich nicht mehr aus. Er wollte eigentlich nicht nach Hause gehen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, also beschloss er schweren Herzens umzukehren.

Noch einmal schaute er das Gesicht der Frau an. Ihm schien, als ob sie vor Kälte zitterte. Er empfand Mitleid mit ihr, zog seine Handschuhe aus und streifte sie den Händen mit den schmalen Fingern über. In diesem Augenblick fiel etwas in den Schnee, etwas Glänzendes. Michio bückte sich und hob es auf. Es war eine Art Medaillon, etwa drei Zentimeter lang und zwei Zentimeter breit. Michio schaute das Medaillon im blinkenden Licht des Weihnachtsbaums an. Es sah ziemlich alt aus und war ein wenig schmutzig. Auf einer Seite war ein Kreuz und etwas, das wie Buchstaben aussah. Auf der anderen Seite war das Bild einer Frau eingraviert, die so etwas wie einen langen Umhang trug. Die Frau in dem Medaillon sah der Statue ziemlich ähnlich. Das Medaillon war so klein, dass man die eingravierten Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. Michio wusste nicht, von wo das Medaillon heruntergefallen war. Aber als er noch einmal die Statue anschaute, schien es ihm, als ob sie ihn anlächelte. “Vielleicht hat sie mir das zum Dank für die Handschuhe gegeben?” dachte er. “Das kann doch wohl nicht wirklich sein …” Und doch fühlte er sich froh und glücklich bei dem Gedanken, dass die Frau ihm das Medaillon geschenkt habe. Er hielt es ganz fest in der Hand.

Auf einmal war ihm, als hörte er eine ganz leise Stimme, die zu ihm sagte: “Geh doch hinein!” Michio schaute um sich, aber außer ihm und der Statue war niemand zu sehen. Er fühlte sich ganz sonderbar. Michio konnte sich nicht rational erklären, wie ihm eine Statue zuflüstern könnte “Geh doch hinein”. Und doch klang die klare, freundliche Stimme ganz deutlich in seinen Ohren nach. Es war seltsam, aber er empfand, dass er der Stimme folgen sollte. Ängstlich öffnete er die Tür und trat ein. Da sah er einen Mann, schätzungsweise in den Fünfzigern. Der Mann war von etwa zehn Personen umgeben, die ein Buch lasen. Als Michio hereinkam, unterbrachen sie ihre Lektüre und schauten in seine Richtung. Sie schienen nichts gegen ihn zu haben, im Gegenteil, sie hießen ihn freundlich willkommen.

“Guten Abend. Ich heisse Michio Fujiwara. Ich bin Oberschüler in der ersten Klasse.”

Michio war nicht von zartem Körperbau. Er war groß und kräftig. Er hatte starke Augenbrauen, eine wohlgeformte Nase und ein scharf geschnittenes Gesicht. Sein Aussehen hätte kaum eine so leise Stimme vermuten lassen, aber weil er so nervös war, sprach er leise. Der Mann erwiderte: “Guten Abend. Ich heiße Goto. Ich bin der Pfarrer dieser Kirche.”

“Entschuldigen Sie, dass ich so plötzlich hereinplatze … Die Frauenstatue vor der Kirche hat mich immer so getröstet, dass ich einmal eintreten und mich bedanken wollte.”

“Die Frauenstatue … vor der Kirche … sagten Sie?” murmelte der Pfarrer ungläubig.

“Vor unserer Kirche steht keine Frauenstatue! Die Statue eines Mannes, ja, die haben wir”, sagte ein Mädchen, wahrscheinlich eine Schülerin, und darauf lachte die ganze Gruppe.

Michio meinte, man habe ihn ausgelacht. Sein Selbstwertgefühl war angegriffen. Er wurde rot und sagte mit vollem Ernst: “Aber das kann nicht sein! Ich habe das freundliche Gesicht der Frau schon so oft gesehen! Ich bin ganz sicher.”

Pfarrer Goto sprach in ruhigem Ton. “Nun, wenn es Ihnen so wichtig ist, könnten wir doch einmal zusammem nachschauen.”

“Oh ja, auf jeden Fall!”

Pfarrer Goto und Michio gingen voran, die Schar der Gläubigen folgte. Draußen schneite es noch immer. Als sie zum Eingang der Kirche kamen, war Michio sprachlos vor Staunen. Er stand wie angewurzelt und konnte es nicht glauben. Dort, wo er vor wenigen Augenblicken der Frauenstatue die Handschuhe angezogen hatte, stand keine Frauenstatue mehr. Dort, wo sie ihn soeben noch freundlich angelächelt hatte, stand an ihrer Stelle die Statue eines Mannes mit ausgebreiteten Armen – genau wie der Pfarrer und die anderen Leute gesagt hatten.

“Wie ist das möglich? Ganz sicher hat hier eine Frauenstatue gestanden! Und sie hat mich immer ganz freundlich angeschaut! Ich weiß nicht, wie oft sie mich getröstet und ermutigt hat. Das ist keine bloße Einbildung oder Sinnestäuschung! Ich habe wirklich ihre Wärme gespürt. Ich lüge nicht!” Michio konnte nicht begreifen, was geschehen war, und war verwirrt. Für einen Lügner gehalten zu werden, konnte er nicht ertragen. Er war den Tränen nahe und beteuerte, dass er nichts als die Wahrheit gesagt hatte.

“Hier, das hat die Frau mir geschenkt!” Mit diesen Worten zeigte Michio allen Anwesenden das Medaillon, das er bis dahin fest in seiner rechten Hand gehalten hatte. Plötzlich wurde die Atmosphäre ganz gespannt. Niemand sagte ein Wort. Die Schülerin, die schon vorher etwas gesagt hatte, brach das Schweigen. Erstaunt rief sie aus: “Das ist doch die Wunderbare Medaille der Unbefleckten!” Michio verstand kein Wort und wiederholte nur das Gehörte: “Die Unbefleckte? Die wunderbare Medaille?”

Pfarrer Goto erklärte: “Das ist die Wunderbare Medaille. Im Jahr 1830 erschien Maria der heiligen Katharina Labouré, einer französischen Ordensfrau, und bat sie, diese Medaille zu machen. Wenn wir diese Medaille tragen und beten: ‘Heilige Maria, ohne Erbschuld empfangen, bitte für uns’, segnet sie uns mit ihrer Gnade. Diese Medaille hat uns Maria geschenkt.” Michio sah noch ganz niedergeschlagen und verstört aus, und Pfarrer Goto legte freundlich seine Hand auf seine Schulter. “Ich glaube nicht, dass du lügst. Mach dir keine Sorgen. Ist dir nicht kalt? Wenn du möchtest, können wir zusammen eine Tasse Tee trinken.”

Diese Worte versetzten Michio noch mehr in Erstaunen. Wäre es doch in dieser Lage ganz normal gewesen, für einen Lügner gehalten zu werden. Entgegen seinen Erwartungen schien ihn niemand für dumm zu halten. Im Gegenteil, ihre Augen glänzten, so als ob sie etwas Großartiges gesehen hätten.

“Vielleicht hast du tatsächlich die Statue einer Frau gesehen. Ich glaube, dass so etwas möglich ist”, sagte der Pfarrer. Mario entnahm diesen Worten, dass der Pfarrer ihm wirklich glaubte. So beruhigte er sich. Er folgte der Aufforderung des Pfarrers und ging wieder hinein.

“Ich meine, wir sollten unser heutiges Bibelstudium beenden und Tee trinken! Maria hat uns ja auch einen besonderen Gast geschickt.”

Nun hörte Michio zum ersten Mal, dass die Frau die Mutter von Jesus Christus, die heilige Maria, war.

Einige Mitglieder der Gruppe stimmten der Einladung zum Tee freudig zu. Michio war sehr erstaunt und auch sehr froh, dass nicht nur der Pfarrer, sondern auch alle anderen ihm zu glauben schienen. Er wusste selbst nicht, warum er alles erzählte, aber er begann, die ganze Geschichte zu erzählen … warum er begonnen hatte, den Umweg zu dieser Kirche zu machen … wie er von der Marienstatue getröstet worden war … wie und warum er das erste Mal in die Kirche eingetreten war … Alle hörten ihm ganz aufmerksam zu. Dieses Erlebnis war für Michio unvergesslich. Es wurde eine bleibende Erinnerung für ihn.

Michio verabschiedete sich und ging hinaus. Noch einmal ging er an den Ort, wo er die Frauenstatue gesehen hatte. Tatsächlich stand dort nicht die Marienstatue, sondern ein Standbild von Jesus Christus mit ausgebreiteten Armen.

Vorher war Michio verwirrt und ruhelos gewesen. Jetzt aber war er von etwas wie innerem Frieden erfüllt. Vorher war ihm das Leben bedeutungslos, sinnlos erschienen, und alles hatte grau und hoffnungslos ausgesehen. Aber nun war alles ganz anders. Es war, als ob ein heller Strahl der Hoffnung sein Herz erhellte.

Michio hatte Jesus Christus und das Christentum nicht gekannt, und doch gab es eine übernatürliche Macht, die sein Schicksal beeinflusste. Das konnte Michio irgendwie verstehen. Schließlich war die Begegnung mit der heiligen Maria, die er dort erlebt hatte, für ihn Wirklichkeit.

Bald darauf hörte es auf zu schneien, und der Mond schien hell und freundlich auf Michios Weg. Dabei hallte die leise, klare Stimme, die zu ihm sagte “Geh doch hinein!” immer wieder in seinen Ohren nach.

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